Die Familie Maaß aus Lenzen, Kreis Belgard

Erinnerungen von Lothar Maaß

Lothar Maaß

Am 22.04.1938 wurde ich als 5. Kind von Karl Ludwig Julius Maaß (1907-1977) und Elsbeth Selma Hedwig Maaß, geborene Kiekow (1904-2009) in Lenzen Kreis Belgard geboren, wo die Familie bis zur Vertreibung im Dezember 1945 lebte. Nach Erzählungen meiner Eltern, Beiträgen meiner Schwester Gisela Reinhold, geborene Maaß und vor allem – meinen Erinnerungen, Erlebnissen und den Ereignissen des schrecklichen Krieg und dessen Folgen –  möchte ich als damaliges Kriegskind über die Familie Karl Maaß berichten:

Die Vorfahren meines Vaters Karl Maaß väterlicherseits konnten im Rahmen der Ahnenforschung über 7 Generationen bis Mitte des 18. Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Sie waren seitdem „Freie Bauern“. Eine weitere Zurückverfolgung war bisher nicht möglich, da die Kirchenbücher aus Lenzen durch die Ereignisse des Krieges seit 1945 verschwunden sind. Mein Vater erzählte mir, dass er Ende der 20-er Jahre über die Kirchenbücher eine Zurückverfolgung seiner Vorfahren bis ins 16.Jahrhundert erreichte; die Aufschreibungen sind aber leider durch Flucht und Vertreibung verloren gegangen.

Die Familie Maaß in Lenzen, Kreis Belgard; von rechts oben: Karl Maaß, Margarethe Kiekow, Elsbeth Maaß geb. Kiekow, Gisela Maaß, Herbert Maaß, Hulda Maaß geb. Marx, Wilma Maaß geb. Seelig, Hildegard Maaß geb. Dumke mit Tochter Rita auf dem Arm. Unten; Karl-Heinz Maaß, Christa Maaß, Hans-Joachim Maaß.

Daher betreibe ich leidenschaftlich Ahnenforschung mit Unterstützung von Tino Runge, Mitarbeiter des Heimatkreises und Herausgebers der Heimatzeitung „Belgarder Heimatbrief“. Da ich eine weitere Zurückverfolgung meiner Vorfahren anstrebe, steht bei mir die Frage im Raum: „Welche Möglichkeiten bieten sich durch die Nutzung der Grundbücher in der Ahnenforschung, soweit und wo diese vorhanden sind und ob eine digitale Einsicht möglich ist?. Für Hinweise, liebe Leser des Heimatbriefes, wäre ich sehr dankbar.

Mein Vater Karl Ludwig Julius Maaß übernahm den Bauernhof als jüngster Sohn nach dem Tod meines Großvaters Karl August Ludwig Maaß (1878-1934), während sein Bruder Herbert Maaß (!906-1976) bei der Reichswehr (Zwölfender von 1924 bis 1936) diente und danach Zollbeamter wurde. Diese Tätigkeit übte er auch nach dem Krieg bis zur Rente in Krahnenburg an der holländischen Grenze aus. Sein Bruder Walter Maaß (1905-1975) wurde Angestellter bei der deutschen Reichbahn; er war nach dem Krieg bei der Bundesbahn in Schleswig –Holstein nahe Elmshorn bis zur Rente als Beamter tätig. Seine Schwester Irma Beilfuß (1908-1935) , geb. Maaß war verheiratet mit dem Administrator Richard Beilfuß, der mehrere Güter in den Kreisen Belgard und Kolberg-Körlin verwaltete, unter anderem das in Pommern bekannte Saatzuchtgut für Kartoffeln Streckenthin Kreis Kolberg, wo er auch vorher als Inspektor tätig war.

Der Hof der Familie Maaß um 1910

Mein Großvater Karl Maaß bewirtschaftete den Hof seit dem Tod meines Urgroßvaters Karl Maaß im Jahre 1907 bis zu seinem Tod im Jahre 1934. Nebenbei übte er in den 20-iger bis Anfang der 30-iger Jahre die Funktion als Gemeindevorsteher, Vorstandsmitglied der Raiffeisengenossenschaft aus. Nach seinem Tod erbte mein Vater Karl Maaß den Hof.

Durch seinen Besuch der zu Beginn der 20-er Jahre gegründeten  landwirtschaftlichen  Fachschule  Belgard und seine über 10-jährige  praktische Erfahrung  bei meinem Großvater brachte mein Vater gute Voraussetzungen für eine effektive Bewirtschaftung  des Bauerhofs mit. Durch Auswertung von Bodenproben zur Feststellung der Reaktionsfähigkeit der Böden, vorausschauende Planung, richtige Fruchtfolge, bodenverbessernde Maßnahmen wie Meliorationen, Gesundungs-Kalkung und Verstärkung des Zwischenfruchtanbaus (vorwiegend Leguminosen) konnten die Ernteerträge gesteigert werden. Bei den Meliorationsmaßnahmen – wie Grabenausbau mit Errichtung von Staus – auf den Wiesen, nahm er den fachlichen Rat des Wiesenbauingenieurs Pieper aus Belgard – genannt Wiesenpieper- in Anspruch. Besondere Leidenschaft meines Vaters waren die Pferde. Jedes Jahr verkaufte er 2 Fohlen. Als Kind durfte ich die Geburt eines Fohlens miterleben, es war desnachts, nachdem mein Vater mich aus dem Schlaf weckte. Auch durch Saatzucht (Kleevermehrung) und Verkauf des Saatguts konnten zusätzliche Einnahmen erzielt werden.

Auch meine Mutter war durch den Besuch der Haushaltsschule, wo Kochen, Nähen, Stricken u. a. Hausarbeiten gelehrt wurde und durch praktische Betätigungen auf mehreren Gütern für die Haushaltsführung gut vorbereitet.

Sie kümmerte sich weiter um den Garten. Obst und Gemüse wurden für die Eigenversorgung eingeweckt, die Winteräpfel auf dem Boden gelagert und aus Falläpfeln wurde Most gemacht. Sehr begehrt war in Pommern die Apfelsorte „Grafensteiner“; ich habe  noch heute den wunderbaren Geschmack und Geruch dieses Apfels in meinem Mund.

Die Größe des Bauernhofs betrug 38 ha, dar. 28 ha Ackerland , 8 ha Wiesen und 6 ha Weiden. Der Viehbestand betrug 4 Pferde, 26 Rinder und 32 Schweine.

Das Wohnhaus und die Wirtschaftsgebäude wurden in der 2. Hälfte des 19 . Jahrhunderts  errichtet, zuletzt die Scheune im Jahre 1899. Danach folgte eine Vergrößerung des Esszimmers durch einen  Anbau, der Fußboden wurde mit Parkett und  der Eingang mit einer Flügeltür versehen. Diesen Raum nutzte man nur für Festivitäten. Bis zur Heirat spielte meine Tante Irma Beilfuß, geb. Maaß (1908 – 1935)  dort auf dem Klavier, das mein Großvater ihr schenkte.

Das Wohnhaus wurde ab Mitte der 30-er Jahre weiter modernisiert, eine Zentralheizung wurde eingebaut. Heizmaterial war in Lenzen vorwiegend Torf, der aus den eigenen Moorwiesen gewonnen wurde. Torf wurde mit einem Torfspaten gestochen oder mit einer Torfpresse (Antrieb mit einem Pferdegöpel) gewonnen.

Die Arbeiten auf dem Feld und im Stall waren nach dem damaligen Stand der Technik gut mechanisiert. Für die  Getreideernte standen der Selbstbinder, für die Heuernte moderne Mähmaschinen und Heuwender und für die Futter-zubereitung leistungsfähige Häcksler und Futterschneidemaschinen zur Verfügung. Das Getreidegut wurde in die Scheune gefahren und im Spätherbst und Winter mit dem Lanz-Dreschkasten gedroschen und mit nachgelagerter Strohpresse zu Strohballen gebunden. Die Futterkartoffeln für die Schweine wurden im Herbst durch Dienstleister (Dämpferkolonne) gekocht und für die laufende Fütterung eingemietet.

Auf dem Bauernhof wohnten 4 Generationen in 8 Zimmern :

  1. Meine Urgroßmutter (väterlicherseits) Mathilde Maaß, geb. Kiekow und ihre Tochter Irene Anna Erika Maaß (meine Großtante Erika), die sie pflegte
  2. Meine Großmutter (väterlicherseits) Hulda Maaß, geb. Marx (1883-1946)
  3. Meine Eltern Karl Maaß und Elsbeth Maaß, geb. Kiekow
  4. 8 Kinder (Jahrgang 1929-45): Karl-Heinz, Christa, Gisela, Sigfried, Lothar, Edelgard, Martin und Hartmut

Meine Erinnerungen aus der frühen Kindheit gehen bis ins Jahr 1941 zurück. Während dieser Zeit waren bis Mitte Juni bei uns im Hause  einige Soldaten der Wehrmacht einquartiert, die dann aber wieder abzogen. An einem Tag, an dem mein Vater Heu einfuhr, wollte ich unbedingt mit dem Leiterwagen mitfahren, was ich natürlich nicht durfte und lief weinend hinterher. Nachdem ich später meine Eltern nach diesem Ereignis fragte, erfuhr ich, dass  dies der 22.Juni 1941 –  Tag des Kriegsbeginns mit der Sowjetunion  – war. Meine Mutter erzähle mir, dass wenig später neben unserem Hof, auf dem ehemaligen Bunde-Hof russische Gefangene einige Tage untergebracht waren und mein ältester Bruder Karl-Heinz mehrere Brote den Hungernden über den Zaun reichte.

Während des Krieges waren mehre Bedienstete aus dem Ausland auf dem Bauernhof beschäftigt: Zu Beginn kamen Viktor und Martha aus Polen und Louis aus Frankreich und später Marie mit ihrer Mutter (Madga) aus der Sowjetunion . Meine Eltern haben alle Bediensteten sehr menschlich und fürsorglich behandelt, dies wurde auch nach der Rückkehr von der Flucht ( 03. – 13.März 1945) von Marie  –  die sich noch auf dem Hof aufhielt –  durch Umarmung meiner Mutter und  ihre Worte „Frau gut, Chef gut „ bestätigt.

Familie Karl Maaß mit Erntehelfern: v.r am Fenster, Hulda Maaß mit Enkel Siegfried Maaß, Karl Maaß. 4. v.r. Elsbeth Maaß, Wilma Maaß geb. Seelig, ganz links: Herbert Maaß.

Ein besonders gutes Verhältnis hatten meine Eltern zu Viktor und Martha. Viktor kam aus ländlichen Verhältnissen und war daher eine wichtige Stütze bei Feld- und Stallarbeiten. Er konnte besonders gut mit Pferden umgehen und verrichtete Feldarbeiten sehr selbständig. Martha kam aus gutbürgerlichen Verhältnissen, sie half vorwiegend in der Hauswirtschaft .

Mein Bruder Siegfried –  über 1 Jahr älter – war mein bester Spielkamerad. Wir hielten zusammen wie Pech und Schwefel, mussten alles ausforschen und ausprobieren. Das Spielzeug – die Burg, die Eisenbahn, die Bleisoldaten und  alles was mein Bruder von unserer Oma Hulda zu Weinachten geschenkt bekam, gehörte auch mir. Als wir schon etwas größer wurden,  kletterten wir öfter auf den Strommasten der Überlandleitung  herum und legten ganz in der Nähe unser Ohr auf die Schienen der Eisenbahn, um zuhören,  ob der Zug bald kommt. Beide Trassen – von  Belgard nach Schivelbein –  befanden sich an der Flurgrenze unseres Hofes; etwa 1 km entfernt. Besonders gerne tobten wir in der Scheune im Stroh, nicht selten mit Forken. Eines Tages erblickten wir im Stroh Viktor und Martha bei der Liebe. Ich wusste damals aber noch nicht, was da genau geschah. Mein Bruder war schon etwas klüger, lief über den Hof und rief laut: „Viktor………mit Martha“ und ich folgte danach auch seinen Rufen. Wir hörten dann aber beide damit auf, als unsere Mutter uns ermahnte. Martha wurde schwanger und ging zurück zu ihrer Mutter nach Polen, wo sie auch ihr Kind bekam. Martha und  Viktor blieben bis zuletzt zusammen; später erfuhr meine Mutter, dass beide in der Nähe von Belgard kurz vor Ende des Krieges von russischen Soldaten auf der Flucht erschossen wurden.

Im Sommer nahm mich mein ältester Bruder Karl-Heinz (1929-1945) oft mit auf die Hütung, wo er auf die Rinder aufpassen musste. Hier war besondere Vorsicht geboten. Wie mein Vater mir erzählte, war dort nicht selten eine Kuh im Moor versackt.

Im Winter waren wir, ich erinnere mich, oft mit meiner Schwester Gisela und meinem Bruder Sigfried  zum Rodeln auf dem Küsterberg. Ich fand ihn damals sehr hoch und war daher nicht gleich bereit, da alleine herunterzufahren; dabei war er, wie ich später feststellte, nur 10 m hoch. Oft waren wir danach in der Nähe bei Bäcker Hardt, um uns aufzuwärmen. Wir erhielten dort frischgebackenes Brot und Bonbons ; er war das zu Kriegszeiten übliche Candyzucker. An den Wochenenden, wenn es genügend geschneit hatte und die Arbeit getan war, machte mein Vater mit der ganzen Familie einen Ausflug mit dem Pferdeschlitten.

Im Frühjahr beobachteten wir mit Neugier und Respekt das Klappern der Störche und Füttern der Jungstörche auf dem Nest, das sich auf unserer Scheune befand. Übrigens hatten mein Großvater und mein Vater die Voraussetzungen für den Nestbau durch das Aufbringen eines Wagenrades geschaffen. Nach dem Ruf „Klapperstorch du Bester bring mir eine Schwester“ im Jahre 1941 kam meine Schwester Edelgard zur Welt und dem Ruf „Klapperstorch du Luder bring mir einen Bruder“ im Jahre 1943 mein Bruder Martin. Nach Erzählungen meiner Eltern gab es zu dieser Zeit auf Dächern und Strommasten weit über 10 Storchennester im Dorf. Nicht umsonst nannte man Lenzen auch das „Storchendorf“.

Gerne erinnere ich mich an die Besuche bei Verwandten, besonders  bei meinen Großeltern mütterlicherseits, Hermann Kiekow (1875 – 1946) und Ida, geb. Hardt (1873 – 1946) meinem Onkel Erwin Kiekow (1905-1946) , der den Hof von seinem Vater zu Beginn der 40-er Jahre erbte sowie meinen Tanten Margarete Kiekow (1911-2005) und Gerda Fildebrandt, geb. Kiekow (1914 – 1955). Der Hof befindet sich schräg gegenüber zwischen den Höfen Baatz und Trapp. An meinen Onkel Gerhard Kiekow (1908-1943) erinnere ich mich zuletzt, als er im Winter 1943 aus Russland Heimaturlaub bekam und ich nach dem Essen bei ihm auf dem Schoß saß. Kurz nach seinem Urlaub erhielten meine Großeltern die traurige Nachricht, dass er nach einem Angriff vermisst sei. Sein Schicksal blieb bisher ungewiss. Ein besonders gutes Verhältnis hatte ich  -wie auch meine Eltern und Geschwister – zu meiner Tante Margarete (Grete) .

Wenn es bei uns zu Mittag Kohl gab, was ich als Kind  grundsätzlich nicht essen wollte, lief ich zum Hof Kiekow , und siehe da , es gab dort auch Kohl. Meine Tante „Grete“ gab mir stattdessen eine Stulle mit einer Scheibe Spickganz und dazu eine Flasche Most aus dem Keller und ich war damit ganz zufrieden. Meine Mutter nahm mich oft mit zu Besuch bei ihrer Großmutter und meiner Urgroßmutter Mathilde Kiekow, geb. Krüger (1852-1945) – auf den Hof Anni Kiekow (geb. 1920) – . Ich erinnere mich, als sie aus der Ofenröhre einen Bratapfel holte und mir gab.

Unsere Kreisstadt Belgard erreichten wir mit der Kleinbahn vom Bahnhof Lenzen-Wiesenhof. Meistens fuhren aber meine Eltern mit der Kutsche –genannt Stadtwagen – in die Stadt zum Einkaufen. Die Pferde wurden dort in einer „Ausspanne“ untergebracht  und auch gefüttert. Dabei besuchten wir oft die Verwandtschaft Kaufmann Otto Bannatz (1900-1945),  den Cousin meines Vaters und dessen Familie. Dort war ich besonders gerne, da die Kinder sehr viel Spielzeug hatten.

Meine Schwestern Christa (1931-1946)  und Gisela (geb. 1933) befanden sich in der Woche seit 1942 bzw. 1943 bis kurz vor der Flucht im Frühjahr 1945 in Belgard, wo sie aufs Lyzeum, später Mädchengymnasium  gingen und bei Familien untergebracht waren.

Mein Bruder Karl-Heinz wurde am Palm-Sonntag,  den 02.04.1944 konfirmiert und ich eine Woche später –  gleich nach Ostern –  eingeschult. Mein Lehrer war Paul Spiegel.

Mein Vater hatte meinen ältesten Bruder für die Bewirtschaftung und spätere Übernahme des Hofes gut vorbereitet, denn er rechnete mit seiner Einberufung zum Militär, was bisher wegen seiner Augenerkrankung nicht geschah,  dann aber doch im Spätherbst 1944, als die Front immer näher kam. Von den direkten Kriegseinwirkungen war in Pommern  bis auf einige Flugzeuge, wir Kinder nannten sie Engländer noch  wenig zu spüren. Doch dann kamen immer mehr Evakuierte aus den Großstädten des Rheinlandes und Ruhrgebiets, oft mit sichtbaren Verletzungen an Kopf, Armen und Beinen in Folge der Bombardements,  nach Pommern und so auch nach Lenzen . Mehrere evakuierte Familien bekamen Unterkunft bei den Bauern in Lenzen, so auch bei der Familie Erwin Kiekow. Pastor Herbert Last nahm eine 7-köpfige katholische Familie aus Wuppertal auf. Die Kinder der Evakuierten gingen in die Lenzener Schule. In dieser Zeit musste in jedem Dorf mindestens 1 Haus – man nannte es „ Behelfshaus“ –  für Evakuierte errichtet werden . Ein solches wurde auch in Lenzen gebaut. In diesem Haus wohnte  nach dem Krieg Frau Klawin,  eine Deutsche, die einen Weißrussen heiratete und in Lenzen blieb. Frau Klawin war bis 2000 Anlaufpunkt für alle Lenzener Besucher und auch Dolmetscherin bei Besuchen der Familien auf den jetzt polnischen  Höfen bis spät in die Neunziger Jahre.

Nach dem Großangriff der Roten Armee an der Ostfront im Januar 1945 kamen immer mehr Flüchtlinge aus Ostpreußen nach Pommern , so auch zu unserer Familie. Erinnern kann ich mich an Herrn Jahnert und Herrn Adumeit.  Herr Adumeit war von Beruf Friseur und er sollte mir die Haare schneiden und nachdem er mich fragte: „Ponny oder Scheitel“, antwortete ich: „natürlich Scheitel“. Aber dann schnitt er mir mit seiner Handhaarmaschine von vorne nach hinten über den Kopf einen „Scheitel“ und anschließend Glatze.  Meine Mutter war entsetzt und ich sehr ärgerlich.

Im Februar 1945, als die Front noch näher kam, begannen überall in Pommern  die Vorbereitungen der Flucht in Richtung Westen. Es wurden wertvolle  Sachen versteckt oder in der Scheunentenne vergraben und für den Transport  zwei Leiterwagen ausgebaut und mit Planen versehen. Im Radio hörte man wohl schon viel von der Flucht, doch eine eigenmächtige Flucht war nicht möglich, sie musste genehmigt werden. So durfte die Familie des Bürgermeisters Friedrich Tapp zu Ihren Verwandten nach Warnemünde ausreisen. Ihnen blieb damit Vieles, was wir erlebt haben, erspart. Noch Ende Februar hieß es im Radio: „Für Belgard besteht keine Gefahr“.

Ganz plötzlich ging es am 3. März 1945 los. Die Leiterwagen waren vollbepackt mit allem, was rauf ging. Ein Fuhrwerk führte mein Bruder Karl-Heinz und das zweite Fuhrwerk der Franzose Louis. Essen für die Familie und Futter für die 4 Pferde hatten wir genug mit. Es lag Schnee und es war sehr kalt. Unterwegs musste oft auf der Straße Platz für Truppentransporte gemacht werden. Hier sah man Pferdewagen im Graben liegen, Menschen und Pferde verletzt. Unsere Hunde Freund und Greif wurden unterwegs überfahren. Einmal übernachteten wir im Kreis Kolberg in einer Schule. Irgendwann kamen wir in Quetzin, wenige Kilometer vor Kolberg, an. Dort wurden wir bei Verwandten gut aufgenommen und verpflegt. Es war warm und wir wurden satt. Weiter in Richtung Westen ging es nicht, wir befanden uns im Kolberger Kessel, wo harte Kämpfe stattfanden. Der Krach der Geschütze und Kanonen war zu hören. Meine Großmutter sagte eines morgens ganz früh: „Ein Russe war heute Nacht im Haus und fragte Jeiki (Eier), trank mehrere Eier aus und verschwand wieder“. Am nächsten Tag fanden ganz in der Nähe schwere Kämpfe statt. Ich erinnere mich, als ein Geschoß einen Baum auf dem Gehöft traf und plötzlich ein großer Ast wenige Meter vor mir lag. Kurze Zeit später wurde auch Quetzin von den Russen eingenommen. Die Pferde wurden verletzt oder gestohlen. Nach Tagen ging es zurück in Richtung nach Lenzen. Meine Großmutter und mein Bruder Siegfried blieben zunächst in Quetzin zurück

Auf dem Rückweg nach Lenzen machten wir wieder für ein paar Tage Rast in Dassow bei Verwandten meiner Großmutter Ida Kiekow, geb. Hardt und fuhren am 12. März 1945 bis kurz vor Körlin, wo am Wagen etwas zerbrach, ob Deichsel oder Wagenrad, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls konnten wir nicht mehr weiterfahren. Mein Bruder musste die ganze Nacht reparieren, bis wir schließlich weiterfahren konnten. Als wir am frühen Morgen in Körlin ankamen, gerieten wir an einen Kontrollpunkt der polnischen Miliz in Zivil. Der Wagen wurde  durchsucht und mein Bruder Karl-Heinz wurde nach einem heftigen Kolbenstoß der Kalaschnikow auf seinen Körper abgeführt. Sein letzten Worte waren: „Mama, Mama“. Er wurde verschleppt und landete in einem Arbeitslager am Flughafen Charkow in der Ukraine. Laut Mitteilung durch Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes erfuhren wir später, dass mein Bruder Karl Heinz Ende September 1945 dort an Typhus verstarb.

Auf der letzten Strecke der Heimfahrt zwischen Belgard und Lenzen sah ich die schrecklichsten Bilder meines Lebens, die ich nicht vergessen werde: viele gefallene Soldaten lagen auf und neben der Straße, auf  den anliegenden Wiesen und einige hingen sogar an den Weidezäunen, ein furchtbarer Anblick. In Lenzen angekommen, empfingen uns Marie und ihre Mutter, die bei uns gearbeitet hatten. Marie umarmte meine Mutter und sagte: „Frau gut, Chef gut und wo ist Oma?“.  Meine Eltern haben , wie schon erwähnt, alle Ausländer gut behandelt; meine Oma war zu Mutter und Tochter etwas strenger. Nach geraumer Zeit flohen sie mit Sack und Pack aus Lenzen. Die vergrabenen Wertgegenstände in der Scheunentenne waren ausgeräumt.

Die Zeit bis Ende des Krieges war für die Familie zeitweise beängstigend. Ständige Kontrollen mit vorgehaltener Kalaschnikow und Durchsuchungen und Plünderungen waren an der Tagesordnung. Die Frauen mussten sich  verstecken. Meine Mutter und meine Schwester (14.Jahre) wurden auf die brutalste Weise von russischen Soldaten vergewaltigt. Viele Frauen  machten sich Mehl in die Haare und steckten sich ein Kissen unter die Kleidung auf dem Rücken und riefen: „Typhus“, um einer Vergewaltigung zu entgehen. Unser Nachbar Emil Mielke wurde Ende April von der russischen Kommandantur nach einem Verhör erschossen. Was ihm angelastet wurde, ist nicht bekannt.

Es gab aber auch viele menschliche Begegnungen, besonders zu Kindern. Soldaten nahmen meinen Bruder Martin auf den Schoß und andere tanzten und spielten mit der Mundharmonika. In unserem Haus wurden mehrere Soldaten einquartiert; ein Soldat stand immer Wache. Meine Schwester Edelgard erinnert sich an einen Wachsoldaten, der mit dem Bajonett die Tür öffnete. Er ließ meiner Mutter wissen, dass deutsche Soldaten seine ganze Familie in Russland umgebracht haben.

Nach Ende des Krieges begannen die Viehtransporte nach Russland. Auch  meine beiden Schwestern Christa und Gisela mussten Kühe von Lenzen in Richtung Bahnhof Belgard treiben, bis sie sich schließlich hinter einem hohlen Weidenbaum versteckten konnten und dann glücklicherweise wieder in Lenzen landen konnten. Jeder Bauernhof durfte nur eine Kuh für den Eigenbedarf behalten. Damit konnte der Bedarf für Milch, Butter und Quark für die ganze Familie so leidlich gedeckt werden.

Mittlerweile stellte sich eine gewisse Ordnung ein, was die Versorgung der Bevölkerung mit dem Notwendigsten anbetrifft. Lebensmittel wurden rationiert. In allen Orten begannen Impfungen gegen Typhus . Männer und Frauen bis zu einem gewissen Alter wurden zu Arbeitsdiensten wie Einbringung der Getreideernte, Abriss von Bahnschienen und deren Abtransport nach Russland, eingeteilt. Meine Mutter mit 7 Kindern blieb „ Gott sei Dank „ davon verschont.

Heiß waren die Diskussionen in den Familien in der Frage: „Bleibt Pommern deutsch ?“. Nach dem Beschluss des Potsdamer Abkommens  gab es Gewissheit. Kurz danach wurde unser Hof von Polen besiedelt. Erst kam Stefan Stefanek und ein paar Wochen später die Familie. Wir mussten uns auf  2 Räume und Küche (bisheriger Altenteil des Hauses) einengen. Die Verhältnisse hatten sich, insbesondere was die Versorgung mit Lebensmitteln anbetraf, weitaus verschlechtert. Im Herbst ahnte unsere Mutter wohl schon , dass wir raus müssen. Tag und Nacht behielten wir unsere warmen Sachen an, damit wir etwas retten konnten.

Ganz plötzlich ging es am 7.Dezember 1945 los, ein Wagen stand bereit und  wir bekamen nur 1 ½ Stunden Zeit zum Packen. Wir Kinder bekamen noch ein paar Habseligkeiten um den Körper . Ich bekam die Joppe meines Bruders , die fast bis zur Erde hing, angezogen und darunter einen großen Beutel mit Bildern. Auch bei der Familie Kiekow stand ein Wagen für den Abtransport bereit. Der Viehwagen auf dem Bahnhof in Belgard stand schon bereit. Bitterkalt, Temperaturen um -10 Grad Celsius, ohne Essen und Trinken  ging es los in Richtung Stettin-Scheune. Im von außen verriegelten Viehwagen war es sehr eng, dunkel und ohne Toilette. Nach einer gewissen Zeit hielt der Zug auf freier Strecke plötzlich an, zwei Polen stiegen ein und es begannen die Plünderungen. Die Polen waren sehr aggressiv und nahmen uns die letzten Habseligkeiten weg. Meine Tante Grete (Margarete Kiekow) hatte sich nur verbal gewehrt, dabei wurden ihr die Zähne rausgeschlagen. Unsere Mutter wurde halb ausgezogen und meinem Großvater Hermann Kiekow wurden die Stiefel ausgezogen. Seine Füße wurden so unterkühlt, dass seine Zehen erfroren. Die Fahrt nach Scheune war unendlich, wohl 1 ½ bis 2 Tage. In Scheune mussten die Menschen, die dicht gedrängt auf den Bahnsteigen stundenlang standen, in verschiedene Richtungen verteilt werden. Immer wieder wurde unsere Familie durch das Drängeln getrennt, aber durch laute Rufe fanden wir wieder zusammen. Von Stettin-Scheune mit der Bahn bis Barth (Vorpommern) angekommen, sind wir dann im Flüchtlingslager (ehemalig Fliegerhorst) gelandet. In einer Kaserne, die kaum geheizt war, lagen wir 4 Wochen auf Stroh bei Kälte und viel Hunger. Wir bekamen fast nur Wrucken zu essen. Nach kurzer Zeit hatte die ganze Familie Läuse, Überträger von Flecktyphus, auf  Kopf und Körper. Im Lager breitete sich Flecktyphus aus, woran tausende Menschen im Lager starben; sie wurden in Massengräbern beerdigt. Mein Großvater half bei der Bergung der Toten, und bekam dafür pro Tag ein Brot, was durch 13  (Anzahl der Personen der beiden Familien) geteilt wurde. Ich glaube, dass mein Großvater uns dadurch vor dem Hungertod gerettet hatte. Das Betteln meiner beiden Schwestern Christa und Gisela sowie meiner Tante Grete in den anliegenden Dörfern hatte wenig Erfolg, denn es waren zu viel Menschen, die das Gleiche taten.

Ende der ersten Dekade im Januar 1946 kamen wir aus dem Lager raus und wurden mit der Kleinbahn von Barth über Altenpleen nach Klausdorf, Kreis Stralsund, transportiert und von dort mit dem Pferdewagen weiter nach Barhöft. Dort wurde die Familie Maaß (8 Personen) beim Fischer und Gastwirt Werner Rüting in einem Zimmer und die Familie (Kiekow/Fildebrandt) in einem Lotsenhaus untergebracht.  Wir schliefen bei Rütings auf Stroh ohne Zudecke. Meine Großmutter Hulda bekam plötzlich hohes Fieber; sie starb am 13. Januar 1946 an Flecktyphus und wurde auf dem Friedhof Prohn im Papiersack beerdigt. Kurze Zeit danach bekamen alle Familienmitglieder hohes Fieber, und der Abtransport mit dem Pferdewagen ins Krankenhaus nach Stralsund, trotz eisiger Kälte, blieb unausweichlich. Am 7. Februar 1946 starb mein Bruder Siegfried mit 9 Jahren, am 19. Februar 1946 meine Schwester mit 15 Jahren an den Folgen der Flecktyphus-Erkrankung.  Unsere Mutter hatte sich sehr schlecht erholt, sie ging lange Zeit auf Krücken, daher wurde sie zunächst von der Todesnachricht verschont. Anfang März waren wir 4 Kinder und unsere Mutter wieder daheim bei Rütings. Versorgt wurden wir und meine Großeltern Hermann und Ida Kiekow  vorwiegend von unserer Tante Grete. Mein Großvater Hermann Kiekow starb am 06.März 1946 und meine Großmutter Ida Kiekow am 17.03.1946 an den Folgen einer Ruhrerkrankung, beide wurden auf dem Friedhof Prohn im Papiersack beerdigt.

Als mein Vater, der nach seiner Entlassung aus der englischen Gefangenschaft bei einem Bauern in Schleswig-Holstein arbeitete, den Aufenthaltsort und vom Schicksal seiner Familie erfuhr, begab er sich sofort, den Rucksack voll bepackt mit Konserven, auf den Weg, und kam schließlich am 20.April 1946  bei uns in Barhöft an.  Ausgehungert aßen wir nach langer Zeit Wurst und Fleisch aus den mitgebrachten Konserven mit schlimmen Folgen. Der Magen hatte es nicht vertragen, daher mussten wir uns bei der ersten Mahlzeit übergeben. Mein Vater kümmerte  sich sehr schnell um Bettgestelle, Matratzen und Zudecken und notwendigen Hausrat. Im Frühsommer 1946 bekam er auch gleich Arbeit beim Wasserstraßenamt Stralsund im Bereich Schiffsbergung und Seebaggerei. Diese Tätigkeit übte er weit über 20 Jahre aus.

Die Familie (6 Personen) wohnte vom Herbst 1946 bis Ende 1951 in einem Zimmer im gleichen Haus bei Emma Rüting und danach bis 1960 im Zollhaus mit 3 Zimmern. Durch einen Wohnungstausch mit einem Lotsenbootfahrer  zogen meine Eltern in ein Haus in Prerow/Darß. Dort fanden sie eine neue Heimat, wo sie bis zu ihrem Tode glücklich lebten.

Die alte Heimat in Lenzen war bei meinen Eltern und auch bei mir immer gegenwärtig. Im Jahre 1971 fuhr ich im Trabant mit meinen Eltern und meiner Schwester Edelgard das erste Mal nach der Vertreibung nach Lenzen.  Wir waren  enttäuscht  vom Verfall des Hofes: das Eingangstor und der Kuhstall waren abgerissen, der Hof war verkommen, der Friedhof war zugewachsen mit Bäumen und Sträuchern und Grabsteine waren nicht mehr zu finden. Meine Eltern hatten daher danach keine Absicht mehr, noch einmal dorthin zufahren.

Nach der Wende,  in den Neunziger Jahren,  besuchte ich mehrmals während des Aufenthalts in Hinterpommern (Kur und Urlaub in Bad Polzin und Kolberg) meinen Geburtsort Lenzen und die Umgebung mit großem Interesse. Anlaufpunkt für alle Lenzener, wie ich bereits erwähnte, war immer Frau Klawin, eine Deutsche. Sie führte uns durch den Ort  und dolmetschte bei Gesprächen mit Polen auf den Höfen.

Als Mitglied der „Freunde Kolbergs“ in Berlin-Pankow (Patenstadt von Kolberg) habe ich Kolberg öfter aufgesucht, so nahm ich auch an der Jubiläumsfeier im Mai 2004 teil.

Danach machte ich gemeinsam mit meinem Bruder Martin (Jg. 1943) eine Reise in unseren Geburtsort und die nähere Umgebung  – nach Belgard, Bad Polzin, Körlin, Dassow, Köslin, Jamund, Labus, Quetzin und Kolberg – und schenkten danach unserer Mutter zum 100. Geburtstag ein Album von unserer Reise. Die Freude über das Geschenk war natürlich sehr groß.

Zuletzt besuchte ich Lenzen im Juli 2018 mit vielen Heimatfreunden unseres Vereins während eines Urlaubsaufenthalts in Körlin. Unser Heimatfreund Fischer, der bis in die 50-iger in meinem Nachbarort lebte, betätigte sich auf Grund seiner guten Polnisch-Kenntnisse als Dolmetscher, so auch mit dem jüngsten Sohn von Stefan Stefanek, auf dem ehemaligen Maaß-Hof.